Das Märchen „Johanniskraut“

(aus dem Kräutermärchenbuch von Folke Tegetthoff)

Johanniskraut

Alles, was von dem grausamen Schauspiel übrigblieb, war ein rotgefärbtes Wiesenstück. Die schaulustige Menge, die Soldaten und Richter hatten sich verzogen. Der Wagen mit der Leiche des Geköpften rollte langsam davon, hinter ihm gingen zwei Frauen und ein paar Männer. Die Erinnerung schwebte wie eine Wolke über der Wiese. Morgen wird sie schon weiter ostwärts gezogen sein, und übermorgen wird der Wind des Vergessens sie verjagt haben.

Nur das rotgefärbte Wiesenstück zeigte noch, dass hier etwas Schauriges stattgefunden hatte. „Der Regen nimmt das Blut mit sich“, sang ein Vogel, „und denken wird niemand mehr an dich.“ Der Regen entfernte das Blut, und die Wiese blühte, und verliebte Paare wanderten über die einstmals rotgefärbte Erde.

Ein Jahr verging. Kaum einer erinnerte sich mehr an den Tag, als hier der Tod zu Gast gewesen war – nur … Auf dem Wiesenfleck wuchs eine seltsame Pflanze. Am Tag der höchsten Sonne blühte sie goldgelb. Manche, die vorübergingen, blieben stehen und wunderten sich, was für eine Blume das wohl sein mochte – sie war in dieser Gegend unbekannt.

Um diese Zeit kam eine Frau aus einem fernen Land in die Stadt. Sie sagte, sie komme von weither, um den Johannes zu treffen. „Den Johannes?“ sagten die Leute erstaunt. „Ja, hast du denn nichts davon gehört? Vor einem Jahr ist er enthauptet worden.“ Die Frau wollte es erst glauben, als man sie zu seinem Grab führte. „Und wo ist es geschehen?“ fragte sie. Man erklärte ihr den Weg, und als sie dorthin kam, fand sie das blühende Kraut. Sie nahm eine Blüte in die Hand, um daran zu riechen. Sie hatte vielleicht etwas zu fest gedrückt, denn plötzlich rann aus der gelben Blüte ein Tropfen, rot wie Blut. Entsetzt ließ die Frau die Blüte fallen und starrte auf ihre rotgefärbten Finger.

Das Wunder sprach sich schnell herum. Vorsichtig gruben die Leute die Pflanze aus der Erde und trugen sie zu sich nach Hause.

Bald hatte sich das Johanniskraut, wie man es nannte, über das ganze Land vermehrt. Und bald sprach man nicht nur vom Blut des Johannes, das aus den gelben Blüten rann, man sprach auch von wundersamen Heilungen, die es bewirkte: „Ein Geschenk des Himmels!“

Dies musste wohl auch der Teufel gehört haben. „Das ist unfairer Wettbewerb“, wetterte er. „Der da oben soll seine Wunder im Himmel behalten!“

In einer kohlrabenschwarzen Nacht schlich er zur Wiese, wo das Johanniskraut erschienen war. „Nun wirst du von der Erde verschwinden müssen, du Gotteskraut“, lachte der Teufel höhnisch. Er sammelte einen Mundvoll seines giftigen Speichels und sprühte ihn auf die Pflanze. AIs das widerliche, scharfe Zeug die Blätter berührte, brannte es tausend kleine Löcher in das Grün.

Ein Teufelsspruch, ein Katzenbuckel, eine Ladung grüner Spucke in alle Himmelsrichtungen, und jedes blühende Johanniskraut im ganzen Land war verletzt durch unzählige kleine Wunden.

Als die Menschen die schreckliche Tat bemerkten, ahnten sie gleich, dass dies nur Teufelswerk sein konnte. Schnell sammelten sie alle noch verbliebenen Blüten ein. Sie dachten, es würden die letzten sein – dem Teufelsschleim widersteht nichts.

Als der Frühling kam, hielten die Menschen jeden Tag Nachschau, ob die gelbe Blume kommen möge. Doch der Teufel schien sein Werk gut getan zu haben. Schon wollten sie die Hoffnung aufgeben, als nach kräftigen Sonnenstrahlen sich plötzlich das Johanniskraut aus der Erde kämpfte. Am Tag der höchsten Sonne blühte es so gelb wie nie zuvor!

Und damit der Teufel sich ewig daran erinnert, dass sein Gift bei einem Kraut des Himmels keine Wirkung zeigt, blieben die tausend kleinen Wunden für immer in den Blättern.

Das Johanniskraut nennt man auch Blutkraut, Herrgottsblut, Tausendlochkraut, Jesuwundenkraut, Teufelsloch – warum, weißt du ja jetzt, wo du mein Märchen gelesen hast.

Johanniskraut wächst in ganz Europa wild an sonnigen Hängen, an Böschungen und Waldrändern.

Verwendet wird das ganze Kraut mit den Blüten (es blüht, wenn die Sonne zur Sommersonnenwende Ende Juni am höchsten steht).

Es schmeckt bitter!

Wenn du die Blätter gegen das Licht hältst, siehst du, dass sie von unzähligen Löchern durchstoßen sind. Das zweite Geheimnis: Reibst du die gelben Blüten zwischen deinen Fingern, färben sie sich blutrot! Das Johanniskraut wird zur Wund- und Schmerzbehandlung verwendet. Es wirkt nervenberuhigend. Sollte es notwendig sein, versuche eine vier- bis sechswöchige Trinkkur. Meide aber in dieser Zeit die Sonne, denn das Johanniskraut macht dich lichtempfindlich!